Lernen Sie die St.-Thomas-Kirche kennen!

Kurt Lettow in der St.-Thomas-Kirche

Wenn man unsere St.-Thomas-Kirche betritt, fallen sie einem sofort ins Auge, die Figuren an der Südwand: die überlebensgroße Christus-Figur mit dem Namensgeber unserer Kirche, dem Apostel Thomas, und darunter die zwölf mannshohen Figuren, keine Apostel, aber doch Männer, die für das Christentum von Bedeutung waren. Mit ihren statischen Körpern und den im Kontrast dazu stehenden bewegten Gesichtern mit den überaus lebendigen Augen ziehen sie den Besucher in den Kirchenraum. Geschaffen hat diese Figuren Kurt Lettow (1908-1992).Kurt Lettow stammt aus Bremen und dort hat er auch seine ersten Erfahrungen als Künstler gemacht, erst als Graphiker, dann auch zunehmend als Bildhauer, vor allem für das in den 1920er Jahren entstandene Gesamtkunstwerk Böttcherstraße. Als seltenes Beispiel expressionistischer Architektur wurde hier im Auftrag des Kaffeefabrikanten Ludwig Roselius (Kaffee Hag) unter der Leitung von Bernhard Hoetger eine ganze Reihe von Häusern von verschiedenen Künstlern entworfen und gestaltet. Nach dem 2. Weltkrieg verlegte sich Kurt Lettow auf die künstlerische Gestaltung von öffentlichen Gebäuden, darunter auch zunehmend evangelische und katholische Kirchen. Vor allem im Raum Bremen, aber auch bei uns in der Nähe in Stadthagen, sind seine Kunstwerke noch heute zu sehen. Der Abriss einer Kirche, bei dem auch ein Wandrelief zerstört zu werden drohte, war der Anstoß für Kurt Lettows Tocher Julia van Wilpe, eine Bestandssichtung der Werke ihres Vaters vorzunehmen. Das Ergebnis ist ein umfangreicher Bildband, in dem alle Werke auch fotografisch festgehalten sind. Kurt Lettows künstlerische Gestaltung der St.-Thomas-Kirche umfasst nicht nur die großen Friese an der Südwand, sondern auch das Altarkreuz, sämtliche Kerzenständer und Kerzenleuchter sowie die Griffe an den Außentüren. Beherrschend sind die fünf großen Friese hinter dem Altar, vor allem die große Christusfigur wirkt weit in den Kirchenraum hinein. Neben ihm kniet der Apostel Thomas, der nicht glauben mag, dass Jesus tatsächlich auferstanden ist, bevor er nicht seinen Finger in die sprichwörtlich gewordene Wunde gelegt hat. Interessanterweise gibt Lettow hier nicht diese häufig in der Malerei dargestellte Szene wider, er zeigt den Moment danach: Thomas hält Jesus vertrauensvoll an der Hand, weil er ihn nun erkannt hat und Jesus antwortet ihm, gleichzeitig auch der Gemeinde zugewandt: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ (Johannes 20,29). Nicht der Zweifel steht hier im Mittelpunkt, sondern das Erkennen und der Glaube. Die vier kleineren Friese unterhalb des zentralen Frieses stellen jeweils drei Personen dar, die in einem Zusammenhang zueinander stehen. Dies gilt besonders für die erste Gruppe ganz links, auf der Josef, Maria und Simeon mit dem Jesuskind zu sehen sind. Die Szene stellt die in Lukas 2,25-35 erzählte Darbietung im Tempel dar. Im alten Israel war es Sitte, den Erstgeborenen im Tempel vorzuführen und mit zwei Tauben auszulösen. Warum beginnt die Reihe der Glaubenszeugen mit dieser biblischen Szene? Eine denkbare Erklärung ist, dass Simeon mit seinem Verweis auf den Messias, bestärkt durch den zum Himmel ausgestreckten Zeigefinger, die Aussicht auf das Heilsgeschehen gibt und damit die Propheten des Alten Testamentes mit den Glaubenszeugen der Jahrhunderte nach Jesu Tod verbindet. Zum anderen ist er natürlich der Ur-Simeon, nach dem auch der heilige Simeon benannt wurde, der Schutzpatron der Mindener St.-Simeonis-Kirche.  Die nächsten drei Figuren stellen Widukind, den heiligen Simeon und Ico von Trier dar. Widukind (oder Wittekind) ist im ostwestfälischen Raum noch sehr lebendig, doch passt er eigentlich nicht ganz ins Bild: Der sächsische Herzog hat jahrelang blutige Kämpfe gegen die fränkische Übermacht und die Christianisierung geführt. Ein eher kriegerischer Zeitgenosse also, der von Lettow aber sehr zurückhaltend dargestellt wird. Er scheint sich ein wenig hinter dem neben ihm stehenden Simeon zu verstecken. Sein Schwert hält er fest in der Hand, aber er richtet es zum Boden, das Kreuz trägt er vor seiner Brust. Unter seiner Herzogskrone quellen lange Locken hervor, die ich mir nur blond vorstellen kann, denn dann hat er eine fatale Ähnlichkeit mit so manchem Schlagersänger aus den 70er Jahren… Simeon und Ico sind aus ganz anderem Holz geschnitzt: Beide Mönche stellten ihr Leben ganz in den Dienst Gottes. Simeon, der in Syrakus auf Sizilien geboren wurde und in Konstantinopel aufwuchs, lebte lange in Jerusalem und ist in seinem Leben jahrzehntelang zwischen Europa und em Heiligen Land umher gereist. Die letzten Jahre verbrachte er in Trier, wo er sich in die Porta Nigra einmauern ließ, um sein Leben als Eremit auf engstem Raum zu beenden. Der Domdechant Ico hat nur eine historisch belegte, für Minden aber folgenreiche Reise unternommen: Er brachte die Verehrung für den mittlerweile heilig gesprochenen Simeon von Trier nach Minden und initiierte den (Vorgänger-)Bau der St.-Simeonis-Kirche. Behutsam hält er die Stein gewordene Verehrung symbolisch in seiner Hand und sorgt dafür, dass unsere Mutterkirche in der St.-Thomas-Kirche präsent ist. Die Figuren der Friese sind alle körperlich ganz zurück genommen, Details wie Kleidung, Hände oder Kopfbedeckungen sind nur sparsam ausgeführt, doch mit was für einer Wirkung! In den Faltenwürfen der Ärmel kann man sich verlieren, und welche Kraft strahlt in den Augen, die uns direkt anschauen. Der Expressionismus, dem Kurt Lettow zuzurechnen ist, entstand als künstlerische Reaktion auf den vorangegangenen Historismus. Aus dieser Zeit stammen Denkmäler wie der Große Kurfürst am Wesertor oder der Wilhelm in Porta Westfalica, die Macht durch körperliche Dominanz und Distanz ausdrücken. Wieviel lebendiger und näher sind uns die Lettow-Figuren, die uns auf Augenhöhe begegnen. Mit dem dritten Fries sind wir mitten im Zeitalter der Reformation angelangt. In der Mitte steht Martin Luther, mit ausgestreckter Hand und erhobenem Kopf, die Bibel fest unter dem Arm. So stelle ich ihn mir 1521 in Worms auf dem Reichstag vor, als er verkündete: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Auch wenn dieser Satz wie einige andere schöne Luther-Worte nicht historisch belegt ist… Zu seiner Linken steht Philipp Melanchthon, wie auf vielen anderen Bildern auch an dem schmalen, bärtigen Gelehrtengesicht zu erkennen, der unermüdlich für die Reform des deutschen Bildungswesen gearbeitet hat. Zur Rechten Luthers sehen wir Heinrich Traphagen, der die Verbindung zu Minden herstellt, denn er hielt 1529 in der St.-Simeonis-Kirche die erste „evangelische“ Predigt und löste damit die Reformation in Minden aus. Wir können in diesem Fries also den Weg der Reformation von Luthers Wirken in Wittenberg bis nach Minden in unsere eigene Gemeinde nachvollziehen. Der vierte Fries widmet sich ganz dem westfälischen Raum des 19. Jahrhunderts. Überregional am bekanntesten ist sicherlich Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910) ganz rechts. Das Kind an seiner Seite, das wohl stellvertretend für bedürftige und kranke Menschen steht, weist auf seine wichtigste Gründung hin: Die heute nach ihm benannte v. Bodelschwinghsche Stiftung Bethel. Johann Heinrich Volkening (1796-1877) und Theodor Schmalenbach (1831-1901) gehörten beide der im Minden-Ravensberger Land sehr aktiven Erweckungsbewegung an. Volkening war Pfarrer in Jöllenbeck (Bielefeld), Schmalenbach leistete seinen Hilfspfarrdienst in St. Simeonis ab und wurde dann Pfarrer in Mennighüffen. Mit dem vierten Fries vollendet sich der große Bogen, den Kurt Lettow von den Anfängen des Christentums und der Entstehungsgeschichte der St.-Simeonis-Kirche über die Reformation bis zu der konkreten Arbeit von drei Pastoren in der Umgebung Mindens schlägt. Diese Geschichte ist jedem Gottesdienstbesucher präsent und wird in der Pfarrerin oder dem Pfarrer im Gottesdienst lebendig. Der Faltenwurf im Ärmel des Simeon auf dem ersten Fries, die Locken Widukinds, die fein ausgearbeiteten Kragen der Reformatoren – diese Details machen für mich den Reiz dieser Figuren aus, führen dazu, dass ich mich jedes Mal wieder in den fließenden Linien verliere. Die St.-Thomas-Kirche hat in diesem Kunstwerk einen ganz besonderen Schatz! Die Auswahl der Figuren geht nicht auf Kurt Lettow, sondern auf Pfarrer Wolfgang Günther zurück, der sich darin allerdings ganz als Kind seiner Zeit erweist. Die einzige Frau unter den zwölf Figuren ist Maria, warum hat er nicht noch weitere Frauen aufgenommen? Es gibt durchaus geeignete Kandidatinnen: Margarethe zur Lippe (1525-1578), noch als Katholikin zur Äbtissin des Stiftes Herford gewählt, vollzog mutig und selbstbestimmt den Wechsel zum Protestantismus und bewahrte dadurch das Stift vor der Auflösung. Oder Marie Schmalenbach (1835-1924), die Ehefrau von Theodor Schmalenbach, die heute noch erlebbar ist durch Lied 572 in unserem Gesangbuch „Brich herein, süßer Schein“. Aber hier sollte es ja vor allem um Kurt Lettows künstlerische Umsetzung gehen, und wer nun Lust auf weitere Kunstwerke von Kurt Lettow bekommen hat, dem sei als Anregung die reich bebilderte Werkzusammenstellung seiner Tochter empfohlen: Julia van Wilpe: Kurt Lettow. – Bramsche: Rasch-Verlag, 2012. Das Buch ist im Buchhandel nicht mehr erhältlich, befindet sich aber im Bestand unserer Gemeindebücherei.

Sabine Brügmann